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Album der Woche

29. Februar 2024, 19:16 Uhr von Uwe

In dieser Woche gibt es tatsächlich mal nur ein Album der Woche, nachdem in den letzten Wochen ja doch eher inflationär viele Alben besprochen wurden. Dafür kann man nun mal wieder mehr auf einzelne Songs eingehen, was sich in diesem Fall tatsächlich lohnt. Und so wahnsinnig viele Alben aus dem wilden Osten wurden in dieser Reihe auch noch nicht besprochen.

Was fällt einem beim Thema Ostrock ein? Puhdys, Karat, City? Sicher. Renft und Veronika Fischer? Sicherlich auch. Dann gabs aber in den 1970ern auch eine Nische von progressiv angehauchten Bands, die verschiedenen britischen Vorbildern nacheiferten, electra und Stern Combo Meißen zum Beispiel. Und dann gab es da noch eine Truppe mit dem wenig aussagekräftigen Namen Lift. Und um die geht es heute, bzw. um ihr Album „Meeresfahrt“ von 1979.

Geformt wurde die Band in den frühen 1970er Jahren, nach diversen Personalwechseln und stilistischen Veränderungen vom Jazzrock Richtung progressivem Artrock (was auch immer das nun wieder sein soll) bildete sich 1976 der Kern der Band um Sänger Henry Pacholski, Bassist Gerhard Zachar und Michael Heubach am Keyboard. Letzterer hatte bereits bei unter anderem Renft und mit Nina Hagen gespielt. Im gleichen Jahr erschien das erste Album „Lift“, aber ihr Meisterwerk „Meeresfahrt“ nahmen sie 1978 auf – mit einer unüblichen Besetzung: zwei Keyboarder, Schlagzeug, Bass, Blasinstrumente – aber keine Gitarren.

Sämtliche Texte des Albums stammen von Pacholski, bis auf die Nummer „Tagesreise“, die Heubach bereits Anfang der 1970er komponiert hatte und die bereits von der Horst-Krüger Band eingespielt worden war (u.a. mit Tamara Danz (später bei Silly) an den Backing Vocals). Nicht alle Texte sind gelungen, das eröffnende Wir fahrn übers Meer kann man getrost als Totalausfall bezeichnen, hat man den aber erstmal überstanden gibt es nur noch Musik der allerfeinsten Extraklasse.

Da wäre zunächst das recht bekannte Nach Süden, einer der bekanntesten Songs im Ostrock, mit seinem mehrdeutigen Refrain. Ja, die Vögel hauen in den Süden ab, wenn Winter wird. Ob der geneigte DDR-Bürger in den Süden abhauen wollte? Man weiß es nicht.

Danach folgt das kürzeste Stück des Albums, Scherbenglas. Das ist minimalistische Kammermusik, untermalt von Streichern aus dem Keyboard und allein getragen von Pacholskis Stimme. Das ist ein wunderschön trauriges Liebeslied mit sehr bildhaftem Text.

Die ganz großen Titel kommen nun aber erst noch. Zum Einen ist da die schon angesprochene Tagesreise. Die Nummer ist feinster Prog, kommt auf schlappe achteinhalb Minuten Länge und gilt als eins der besten Musikstücke, die in der DDR überhaupt entstanden. Der Song nimmt in der Mitte so richtig Fahrt auf, da hämmern dann Orgelsounds in einem unwiderstehlichen Rhythmus, dass es eine Freude ist. Nach diversen instrumentalen Kapriolen geht es dann zurück zum Refrain mit feinstem Satzgesang. Ein ganz großes Stück Musik, der Querverweis zu How The Gypsy Was Born von Frumpy soll nicht fehlen – da hämmert die Orgel ab der Mitte auch ähnlich heftig los.

Danach folgt nun das Herzstück des Albums, das viertelstündige Titelstück. Das beginnt sehr langsam und ruhig, ein Grundthema wird vorgestellt, auf mehreren Blasinstrumenten wiederholt und variiert, dahinter ein Teppich aus analogen Synthesizer-Klängen, die das Wabern und Wogen des Meeres akustisch umsetzen. Das wird dann angetrieben von komplexen Schlagzeugmustern, bevor sich alles wieder beruhigt, ein kurzer Text gesungen wird und die Musik sich wieder zum Finale Furioso steigert. Vom Aufbau her sind Ähnlichkeiten mit Shine On You Crazy Diamond von Pink Floyd erkennbar, auch wenn die ganze Sache musikalisch andere Schwerpunkte setzt. Wie auch immer, die Nummer ist ganz großes Kino, da sollte man sich unbedingt die Zeit für nehmen.

Den Ausklang des Albums bildet eine weitere Ballade namens Sommernacht. Pacholski beginnt a capella, sparsame Instrumentierung setzt ein, der Satzgesang kommt nochmal zur Geltung, und plötzlich ist das Album schon vorbei. Eine einfache, aber auch einfach „nur“ schöne Nummer. Und das muss man eben auch erstmal hinbekommen.

Das Album wurde 1978 aufgenommen, aber erst 1979 veröffentlicht. Leider erlebten Henry Pacholski und Gerhard Zachar die Veröffentlichung nicht mehr – sie waren im November 1978 während einer Tournee in Polen bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, bei dem auch Michael Heubach schwer verletzt wurde. Die Band verarbeitete diese Ereignisse in Am Abend mancher Tage, einem der bekanntesten Songs des Ostrock. Es folgten Umbesetzungen und musikalische Neuausrichtungen, die jedoch nie wieder an die Qualität dieses Albums heranreichen konnten.

 

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