Kategorien

Archive

Kalender

Dezember 2023
M D M D F S S
 123
45678910
11121314151617
18192021222324
25262728293031

Album der Woche

21. Dezember 2023, 15:39 Uhr von Uwe

In dieser Woche gibts vorbereiteten Inhalt aus der digitalen Konservendose, denn ich bin unterwegs durch Deutschland (mit etwas Glück sollte ich beim Erscheinen des Artikels angekommen sein, womit wir auch hier elegant ein Futur II ungebracht hätten). Als Soundtrack für derartige Unternehmungen bieten sich ja grundsätzlich Kraftwerk an (je nach Verkehrsmittel Trans-Europa-Express oder Autobahn).

In dieser Woche solls aber nicht um Düsseldorfer Elektronikpioniere gehen, sondern um den französischen Elektronikpionier Jean-Michel Jarre. Der wurde in diesem Jahr schlappe 75, während das Album der Woche 45 wurde. Nach dem überraschend erfolgreichen Oxygène von 1976 war dies nun das zweite Album, und wie der Vorgänger gibt es hier außer einem Mellotron und 15 Synthesizern genau null andere Instrumente und auch keinen Gesang. Dementsprechend kann man auch gleich Strukturen wie Refrains vergessen, die Musik fließt eher über zwei Albumseiten zu je rund 20 Minuten. Die „Songs“ bzw eher Abschnitte sind dabei simplerweise von 1 bis 8 durchnummeriert.

Laut Internet wollte Jarre einen Tag im Leben eines Menschen vertonen. Ich kenne das Album jetzt seit ungefähr 30 Jahren, bei mir hat es in erster Linie zahllose Nachmittage vertont, in denen ich Bundesliga Manager gezockt hab. Wie dem auch sei, steigen wir also ein in eine wilde musikalische Reise, die bei mir eher (und sehr wie der Vorgänger) Assoziationen mit einem intergalaktischen Trip erweckt. Dazu passt auch, dass die Musik dank der eingesetzten Technik damals wie heute maximal futuristisch klingt (was gleichermaßen für die Klassiker von Kraftwerk gilt).

Equinoxe 1 beginnt mit fanfarenähnlichen Klängen, über deren widerkehrendes Motiv dann immer weiter Klangwelten gestülpt werden. Die Klangverläufe könnte man als sich öffnende Türen/Tore/Augen/Vorhänge interpretieren, es hat irgendwie auch was mit dem Morgenstimmung aus Peer Gynt von Grieg, Vivaldis Frühling kommt mir da auch in den Sinn. Einen ähnlichen Effekt erreichte auch Klaus Doldinger im Soundtrack zu Das Boot an der Stelle, wo zu Beginn des Films das erste mal das im Bunker liegende Boot zu sehen ist. Das ganze Stück klingt nach Aufbruch, nach Aufstehen, nach Start in ein wie auch immer geartetes Abenteuer. Nach knapp zweieinhalb Minuten ist diese Eröffnung aber auch schon vorbei, die Fanfare verstummt, blubbernde Synthies leiten über in den zweiten Teil.

Die erste Hälfte des zweiten Teils klingt hingegen eher wie eine Traumsequenz im Halbschlaf, aus der man sich nur mit viel Kaffee befreien kann. Flächige Synthesizerwellen schweben durch die Boxen wie ein Segelschiff bei Flaute (der Mittelteil von Rime Of The Ancient Mariner von Iron Maiden nutzt ähnliche Stilmittel mit völlig anderer Instrumentierung). Während bei den Eisernen Jungfrauen dann aber ein Gewitter in Form eines ausgedehnten Gitarrensolos losbricht, traumtänzelt das Stück hier weiter ruhig plätschernd vor sich hin. Man kriegt alle Zeit, sich den schwachen Seegang anzuschauen, oder Fische und kreischende Möwen zu beobachten. Ein wenig Donner gibts es auch, hier aber synthetisch erzeugt. Vielleicht soll das Stück aber auch nur die bleierne Müdigkeit vertonen, die man auf dem morgendlichen Weg zu Arbeit hat, wer weiß das schon. Nach knapp fünf Minuten hat es sich ausgeträumt, weiter geht es mit Teil 3.

Der löst die Trägheit durch ein flirrendes Motiv ab, über das anschließend flotte Melodien gelegt werden. Die Flaute ist vorbei, das Schiff nimmt Fahrt auf und segelt mit ordentlich Fahrt durch den Ozean. Alternativ beschreibts auch einfach die zweite Stufe des Aufwachens, wenn der erste Kaffee durch die Adern fließt und die Müdigkeit aus dem System vertreibt. Trotzdem kommt das Stück ohne schlagzeugähnliche Sounds aus, der Rhythmus wird rein durch Keyboardklänge vorgegeben, was das Stück locker und luftig leicht wirken lässt. Nach knapp dreieinhalb Minuten kommen ein paar Glockenklänge hinzu, die zumindest andeuten könnten, dass es hier nun doch eher darum gehen soll, dass der Mensch am Arbeitsplatz motiviert seiner Tätigkeit nachgeht. Nach reichlich vier Minuten versacken die motiviert klingenden Keyboards in einem glucksenden und blubbernden Brei, der entweder den zweiten Kaffee oder eine sehr träge suppige See darstellt (vielleicht ists auch einfach nur ein langweiliges Meeting), bevor nach fünf Minuten plötzlich Percussionklänge einsetzen, die den vierten Teil einläuten.

Der basiert nun wieder auf einem ebenso simplen wie effektiven Keyboardmotiv, das von elektronischen Schlagzeugklängen unterfüttert wird. Dazu kommen Windgeräusche und diverse andere Klangeffekte. Das Segelschiff kämpft sich durch die See, alternativ ist man produktiv am Schaffen (der Rhythmus gibt den Akkord der Arbeit vor). Dieser Teil kam auch im TV als Untermalung zu Ehren und stellt neben dem fünften Teil das Herzstück der Scheibe dar und ist auch am ehesten für den Gelegenheitshörer zugänglich. Passenderweise wurden die beiden Teile auch als Single veröffentlicht und gehören bis heute zum festen Liveprogramm des Franzosen (ja, der tritte live hinter einem Berg von Synthesizern auf und lenkt mit riesigen Lightshows und Feuerwerk von der leeren Bühne ab). Das tonangebende Keyboardmotiv verschwindet zum Ende hin unter immer mehr Klangeffekten, bevor das Stück nach knapp sechs Minuten langsam ausgeblendet wird. Die erste LP-Seite ist geschafft, das Segelschiff entschwindet am Horizont außer Sicht (oder der Arbeiter in den Feierabend, je nach Interpretation).

Seite zwei beginnt mit einem Donnerkrachen und dem knapp vierminütigen Teil fünf. Das flotte Stück ist einer der ganz großen Klassiker der elektronischen Musik und beeinflusste den Synthie-Pop der 80er Jahre maßgeblich (ähnlich wie Oxygène IV). Das durch und durch positiv und fröhlich klingende Stück ist mitreißend tanzbar, was im völligen Kontrast zum Beginn des Albums steht, aber irgendwie trotzdem zusammenpasst. Egal ob man das nun als fröhlichen Tanz in den Feierabend, das Zustreben auf den Heimathafen nach langer Seereise oder Vorfreude auf die Ankunft des hoffentlich nicht verspäteten Zuges oder was auch immer interpretiert, die Nummer ist einer der einfachsten Einstiegspunkte in Jarres Gesamtwerk.

Nach vier Minuten schließt sich nun quasi als Fortsetzung direkt Teil sechs an, der das Klangbild verändert. Statt der eher luftigen flächigen Keyboardmelodien kommen nun eher Klänge zum Einsatz, die mich an frühe Computerspiele mit miesen Soundkartenklängen erinnern. Vielleicht soll es auch genau sowas visualisieren, wobei Heimcomputer anno 1978 eigentlich noch etwas zu früh dran sind. Das sehr rhythmusbetonte Stück hämmert sich jedenfalls in dreieinhalb Minuten durch die Gegend, nach knapp drei Minuten verstummen die meisten Instrumente, eine basslastige Melodie bleibt übrig, die allein in Teil sieben überleitet.

Hier kommen nun wieder flächige Keyboardsounds wie im zweiten Teil zum Einsatz, während die rhythmischen Anteile nach und nach abgelöst werden. Im Kontext des Albums. Das Motiv aus dem fünften Teil wird wieder aufgenommen und in epischer Breite ausgewalzt. Der Tag ist zum Abschluss gebracht, das Schiff im Hafen, man genießt den Feierabend. Das Stück kommt erst nach gut sieben Minuten zum Ende, vorher passiert aber in den letzten zwei Minuten schon nur noch reichlich wenig, verschiedene unmotiviert vor sich hin blubbernde Effektgeräte und wabernde Windgeräusche suggerieren wohl dass man als Zuhörer jetzt einschlafen kann, weil man es eh gleich geschafft hat 😉

Der achte und letzte Teil wird mit einem Donnergrollen eingeleitet, danach folgt eine völlig deplatzierte Polka wie aus einem Kinderlied, bevor das Motiv aus Teil fünf und sieben nochmal in einer sehr verschleppten Form aufgegriffen wird. Was diese Polka hier zu suchen hat, weiß vermutlich nur der Komponist selbst, die getragenen Klänge ab der zweiten Minute läuten nun aber das Ende des Albums bzw. die Nachtruhe ein.

Fazit: Eine spannende Reise mit verschiedenen Highlights, bevor es am Ende ein wenig holprig wird. Trotzdem ist die Scheibe musikhistorisch (neben Oxygène und dem Katalog von Kraftwerk) absolutes Pflichtprogramm. Und nächste Woche gibts das totale Kontrastprogramm.

Als Referenz hier noch ein paar Videolinks: Equinoxe 4, mit jeder Menge Vintage-Synthies. Equinoxe 5 live in Monaco 2011 – damit man mal sieht, wie das live umgesetzt wird. Es gibt noch zahllose weitere Videos diversester Natur, der Meister ist da erfreulicherweise kein besonders strenger Verfechtes des Copyrights.

Einen Kommentar schreiben