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Spielzeug was die Welt nicht braucht

26. Juli 2003, 00:00 Uhr von Uwe

Folgendes passierte neulich: Etwa 50 Studenten saßen in einer Vorlesung, und mittendrin fing es aus einer undefinierten Richtung an zu piepsen. Etwa 40 Leute guckten irritiert in ihre Taschen, ob es ihr Handy war und der Prof schaute leicht genervt, weil er unterbrochen wurde. Eine unvorhergesehene Wendung nahm das Geschehen dann, als der Prof feststellte, daß es sein Handy war… [Nachtrag: die gleiche Sache passiert wenige Wochen später nochmal – und als krönenden Abschluß klingelte sein Handy auch in der Prüfung…]

In diesem Augenblick fühlte ich mich wieder einmal in meiner Meinung bestärkt, daß ich keinen solchen Nervtöter brauche. Als der Handywahn Ende der neunziger Jahre begann, ging ich noch zur Schule, da sah man sich eh jeden Tag, und nachmittags hatte ich dann kein Bedürfnis mehr mich noch großartig mit irgendjemandem zu unterhalten. Beim Bund gab es für die wenigen Minuten, wo man überhaupt mal Zeit zum Telefonieren hatte auch öffentliche Fernsprecher, ebenso auf jedem Bahnhof, wenn ich mich mal außerplanmäßig meldete, um eine Verspätung oder so anzukündigen.

Anders sähe das natürlich aus, wenn ich Auto fahren würde: da kann es im Notfall schon sehr wichtig sein, jemanden telefonisch erreichen zu können – aber angerufen werden will ich deshalb noch lange nicht, schon gar nicht bei der Fahrt. Und auch sonst will ich selber entscheiden, wann ich erreichbar bin und wann nicht, und die ständige Erreichbarkeit, die das Handy bietet, führt ja meistens zu der Annahme, daß man auch ständig erreichbar sein will.

Damit hab ich für meine vier Wände das Problem eines zu den unmöglichsten Zeiten klingelnden Handys elegant umgangen, was ich natürlich nicht so einfach umgehen kann, ist die Tatsache, daß andere Leute trotzdem Handys haben, die dann zu den unmöglichsten Zeiten klingeln.

Nun haben viele Leute mit einem Handy natürlich auch das dringende Bedürfnis, stets und ständig mit irgendjemandem zu telefonieren – und sei es auch nur, um zu erfahren, daß die Nummer ständig besetzt ist, weil der/die andere auch grad telefoniert. Egal, dann wird halt was auf die Mailbox (eine denkbar dämliche Beschreibung für ein Tonband) gesprochen, im allgemeinen der Satz, daß man unbedingt sofort und am besten noch vorher wieder zurückrufen soll. Sehr lustig (naja, eher nervig, ich saß im Zug und wollte pennen, „durfte“ dann aber die ganze Zeit zuhören) sind Leute, die erstmal anrufen um die Abfahrt zu melden und daß man wohl in zwei Stunden ankomme, fünf Minuten später wieder anrufen und sich erstmal über alles unterhalten, was man den ganzen Tag über gemacht hat, sich dann noch mit vier anderen Freunden absprechen müssen, was man nächste Woche mal unternehmen will und dann wieder bei der ersten Nummer anrufen, um zu melden daß man nach der Hälfte der Strecke tatsächlich noch pünktlich ist…

Es würde mir nicht im Traum einfallen, zuhause anzurufen und zu sagen, daß ich losgefahren bin und wenn alles paßt in vier Stunden ankomme. Da reicht eine Ankündigung am Tag vorher, daß man gegen x Uhr ankommen wird und wenn nicht, kommt man halt ne Stunde später. Und schon gar nicht würde ich mich dann über meine Erlebnisse der vergangenen Tage/Woche unterhalten, das kann ich nach der Ankunft immer noch in Ruhe. Aber warum soll man mit dem Verbreiten von Platitüden und Allgemeinplätzen vier Stunden warten, wenn man sie gleich loswerden kann und nebenbei noch den Mobilfunkbetreiber reicher macht?

Nachdem dann fast jeder ein Handy hatte, mußte man sich aus dieser Masse wieder irgendwie abheben. Also begannen viele, einen individuellen Klingelton zu benutzen, meistens eine Vergewaltigung einer bereits auf CD bescheuert klingenden Melodie eines bekannten Hits, oder noch schlimmer eine anerkannt geniale klassische Komposition. Mit sowas kann man ja auch im Freundeskreis viel besser angeben.

Da dann aber schnell alle möglichen mehr oder weniger bekannten Hits zu Handygepiepe verwurstet worden waren, mußte man sich was neues einfallen lassen, um sich abzuheben. Also wurden bessere Tongeneratoren eingebaut, so daß Handys neuerdings fast wie Transistorradios klingen. Und so piept heute im Zug wo ich pennen will kein Handy, sondern da ertönt dann plötzlich Beethovens Neunte zusammen mit dem Simpsons-Theme und dem aktuellen Charthit.

Eine andere Form der „Individualität“ sind die Skins, aka quietschbuntes ekelerregendes Plastehüllendingens. Aber solange man den Leuten für so ein bißchen Hartplastik ordentlich Kohle abknöpfen kann, weil man ja für „Individualität“ viel Geld ausgeben muß, scheint das alles keine Rolle zu spielen.

Als das alles nicht mehr den gewünschten Umsatz brachte, weil irgendwann jeder ein Handy mit tollen Klingeltönen und vierunddreißig tollen Skins zum Tauschen hatte, mußte sich die Industrie wieser was neues einfallen lassen: Und plötzlich kann man mit Handys Fotos schießen, Videos aufnehmen und „Multimedia“-Nachrichten verschicken. Toll, das hab ich schon immer gebraucht, daß mich meine Mutter beim Telefonieren auch noch scharf angucken kann… 😉

Fazit: Für Schnatterenten ist ein Handy die denkbar beste Möglichkeit, Geld mit ihrer Lieblingsbeschäftigung auszugeben…

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