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Ein steiler Kreisel

25. September 2023, 18:53 Uhr von Uwe

Die erste Wanderung in Graubünden begann mit einem ausgiebigen Frühstück. Der Weg zum Buffet war allerdings steinig – knapp 100 Stufen allerfeinster Marmorstufen musste man runterstolpern, bevor man mit Blick auf den See frühstücken konnte. Die Auswahl war gewaltig groß, man hätte sich auch noch frisches Rührei und ähnliches Zeugs braten lassen können, mir reichten Brötchen, Kaffee und O-Saft. Eile war nicht vonnöten, der Zug sollte erst kurz vor 9 abfahren.

Die gestern noch defekte Rolltreppe funktionierte jetzt wieder, was mir nur nix nutzte, denn diesmal wollte ich ja abwärts Richtung Bahnhof. Dabei wurde auch ein Aussichtspunkt am Seeufer mit abgeklappert, so wahnsinnig viel Aussicht war nicht wegen Bodennebel. Der Boden ist ja in St. Moritz recht weit oben, und so hatten sich ein paar Wolken zwischen den Bergen verklemmt. Ich hatte aber schon Webcams von weiter südlich geprüft, da war dann nix mehr mit Wolken, das konnte also nur eine sehr lokale Situation sein.

Viertel vor neun hatte ich mir also einen schönen Sitzplatz gesucht und konnte nun pünktlich auf der spektakulärsten „normalen“ Bahnstrecke der Schweiz fahren (noch spektakulärer sind diverse Bergbahnen, die aber nur mit extra Fahrschein befahrbar sind und außerdem keine zwei Stunden Fahrzeit anbieten).

St. Moritz – Le Prese (48.0 km, ↗884m*, ↘1542m)

* Der Wert erscheint mir deutlich zu hoch, die Passhöhe liegt bei etwa 2250m, St. Moritz liegt auf 1175m, da war wohl irgendwo unterwegs der Empfang eher schlecht.

Das heutige Wanderziel war der Lago di Poschiavo und der/das Kreisviadukt von Brusio. Beides liegt im Puschlav, auf der Südseite des Berninapasses, kurz vor Italien. Da muss der Zug also erstmal über die Passhöhe fahren und dann etliche hundert Höhenmeter duch zahllose Kehren ins Tal hinunter. Bis zum Pass ungefähr 400m hoch, dann Richtung Italien rund 1800m runter. Die Berninastrecke ist allein damit schon superspektakulär, hinzu kommt die wahnwitzige Trassierung, teilweise als Straßenbahn und natürlich der unvergleichliche Landschaftswechsel – am Pass oben kann Schnee liegen, eine Stunde später fährt man an Palmen vorbei. Mit Schnee war natürlich nicht zu rechnen, der Wetterbericht hatte wieder rund 30 Grad angesagt, je nach Höhe.

Schon hinter Pontresina war der Zug aus der Nebelsuppe emporgestiegen und spätestens hinter der Montebello-Panoramakurve konnte man von oben auf die wabernden Wolken über St. Moritz gucken. Und weil das da eh alles schon 11 von 10 Punkten auf der Skala der tollsten Aussichten hat, war für den nächsten Tag eine Wanderung an dieser Ecke vorgesehen. Jetzt sollte es aber über den Berninapass und durch die Panoramakurve von Alp Grüm hinuntergehen. Ich genoss also die Fahrt in einem relativ leeren Zug, lediglich eine Gruppe älterer Reisender saß mit im Waggon und unterhielt sich über Abenteuer, die sie vor vielen Jahren in der Gegend mal erlebt hatten.

Der ursprüngliche Plan hatte eine Wanderung ab Poschiavo vorgesehen, aufgrund der Wettervorhersage gings noch zwei Halte weiter bis nach Le Prese, eine Haltestelle direkt am Lago di Poschiavo. Dort hatte der Zug überraschenderweise ein paar Minuten Verspätung. Wie sich später herausstellte ist das auf der Berninabahn gar nicht mal so ungewöhnlich, die Fahrplanstabilität auf dieser Strecke ist wohl deutlich unter dem normalen Schweizer Standard. Mir wars egal, ob ich nun vier Minuten früher oder später anfange mit wandern ist ja nun doch ziemlich egal.

Vom Seeufer zum Kreisviadukt (9.7 km, ↗250m*, ↘420m)

* Der Wert kommt mir auch zu hoch vor, es gab nur einen Anstieg kurz hinter Miralago, und der war eher im Bereich von 100 Höhenmetern. Aber da ging es auch durch den Wald, das – und die hohen Bergflanken – haben vermutlich den Empfang versaut.

Die erste Amtshandlung nach dem Aussteigen war das umfangreiche Einschmieren mit Lichtschutzfaktor und das Nachziehen der Schnürsenkel. Und schon konnte es flotten Fußes losgehen. Der Weg verlief direkt am Seeufer und war dementsprechend topfeben und hervorragend zu laufen. Die Berge boten hier noch ganz gut Schatten, stellenweise läuft man da sogar durch kurze Tunnel, die direkt in die Felswand am Ufer gegraben wurden. Zwischendrin kommen dann auch ein paar Schilder von wegen Steinschlaggefahr, aber irgendwas ist ja immer.

Die Aussicht auf den See und die sich ringsherum aufbauenden Berge war jedenfalls grandios, insbesondere da sich alles im See spiegelte und man so echt schöne Fotos machen konnte. Trotz diverser Zwischenhalte für Fotoknipserei war dieser erste Teil der Wanderung aber schnell vorbei, so riesengroß ist der See ja dann auch wieder nicht und in der Ebene marschiert es sich mit so langen Stelzen wie meinen ja doch ziemlich flott.

Ab Miralago änderte sich das nun grundsätzlich. Zunächst mal ging es ein paar Dutzend Meter nach oben und auf die andere Seite des Tals, bevor es auf wilden verschlungenen Pfaden abseits von Straße und Bahnstrecke in Richtung Süden ging. Dabei war man größtenteils im Wald unterwegs und somit schön vor der Sonne geschützt, aber schweißtreibend warm wars trotzdem.

Wesentlich ärgerlicher war hier die Wegqualität. Nachdem es anfangs noch diverse landwirtschaftliche Wege waren, war man hier nun auf Wanderpfaden unterwegs, die teilweise auch über Geröllhalden führten. Da musste man dann schon sehr genau schauen wo man hintritt, teilweise boten die Steine auch nicht wirklich festen Halt, man kam dort also nur relativ langsam voran, wesentlich langsamer als ich eigentlich geplant hatte. Immerhin hatte ich ja eigentlich das Ziel, am Kreisviadukt auch einen Zug zu fotografieren und hatte mir extra Fahrzeiten aufgeschrieben.

Ungefähr einen Kilometer vorm Ziel konnte ich diesen Plan schließlich endgültig begraben, in dem Augenblick wo ich den Kreisviadukt das erste Mal sah, fuhr auch schon der Zug drüber. Nuja, was solls. Dafür wurde nun der Weg wieder besser, man kam aus dem Wald raus und die letzten paar Hundert Meter führten wieder über landwirtschaftliche Wege. Am Kreisviadukt angekommen wurde dann eine ausführliche Pause eingelegt und der Fahrplan studiert.

Es gab nun zwei Optionen, nämlich den nächsten Zug nach Italien abpassen, dort noch ein Eis essen und dann zurück nach St. Moritz, oder direkt zurück nach St. Moritz. Während ich da noch die Optionen prüfte, quietschte es von oben her – ein Zug war auf dem Weg hinunter ins Kreisviadukt. Ich suchte mir also fix einen passenden Standort für Fotos und konnte so das Ziel des Tages doch erreichen – Fotos vom Zug auf dem bzw im Kreisviadukt. Das hatte jetzt nur einen Schönheitsfehler – der Zug fuhr Richtung Italien, und ich hätte drin sitzen sollen, wenn ich mir auch italienisches Eis schmecken lassen wollte.

Na gut, dann eben ohne Eis. Ich schnappte mir also meinen Rucksack und stapfte nun in Richtung Bahnhof zurück. Das waren zwar nicht wirklich viele Höhenmeter, war aber doch gleich wieder ordentlich anstrengend. Gegen viertel vor zwei saß ich dann also am Bahnhof Brusio auf einer Bank im Schatten und guckte irritiert auf den Fahrplan. Da erst fiel mir auf, dass ich während der Vorbereitung und Planung zu blöd war zum richtigen Lesen – da fuhr noch ein weiterer Zug nach Italien, und zwar schon in einer Viertelstunde. Gleichzeitig kreuzte er dort einen Zug Richtung St. Moritz. Ich hatte den Zug im Fahrplan nicht gesehen, weil er nicht von St. Moritz fuhr, sondern von Pontresina – dämlicher Anfängerfehler. Aber nichts ist so konstant wie die Lageänderung, und gute Pläne müssen sich den geänderten Lagen eben anpassen. Na gut, dann eben doch mit Eis.

Brusio – Tirano (6.7km, ↗51m*, ↘396m) und italienisches Eis

* Hier gings eigentlich nur bergab, das ist also alles nur akkumulierter Messfehler.

Vor den Eisbecher hatte die Planung nun aber erstmal eine kurze Zugfahrt gesetzt. Und vor diese Zugfahrt das Warten auf den Zug. Zunächst mal kam der Gegenzug von Süden her in den Bahnhof eingefahren. Dummerweise hatte der für mich relevante Zug mal eben schlappe acht Minuten Verspätung – die Berninastrecke und die Pünktlichkeit scheinen sich gegenseitig nicht unbedingt zu mögen. Mir konnte es zum Glück egal sein, ob ich nun 14:23 Uhr oder 14:31 Uhr vor einem vollbesetzten Eiscafé anstehen würde.

Der Zug kam dann irgendwann doch noch und so ging es nun hinunter nach Bella Italia. Ich musste im Rucksack erstmal nach dem richtigen Portemonnaie kramen, denn ich reiste ja quasi aus dem außereuropäischen Ausland ein, wo man komisch bunte Geldscheine verwendet. In Tirano angekommen ging es einmal quer durchs Bahnhofsgebäude, anschließend schräg links über den Bahnhofsvorplatz und dort direkt auf den erstbesten Sitzplatz im Schatten. Die Temperatur wurde mit 33°C angezeigt, da war jeder Schritt in der Sonne einer zu viel.

Ich legte mich schnell auf einen Eisbecher mit Nüssen und Schokosoße fest und widmete mich dann ganz entspannt der innerlichen Abkühlung. Der tägliche Massenansturm war zu dem Zeitpunkt schon durch – morgens fährt ja ein Bernina Express Panoramazug nach Tirano und kurz nach dem Mittag zurück, da kriegt man dort rund um den Bahnhof so schnell keinen Sitzplatz. Vielleicht waren aber auch aufgrund des Wetters gar nicht so viele Leute unterwegs, wer weiß das schon. Das Eis war jedenfalls ausgezeichnet, wenn auch nach nur knapp 10km Wanderung eigentlich unverdient. Aber dafür ist es ja Urlaub. Vor der Rückfahrt lief ich noch eine Runde um den Block, aufgrund der starken Hitze suchte ich aber doch sehr schnell einen schattigen und gut gelüfteten Sitzplatz auf dem Bahnsteig auf.

Tirano – St. Moritz (60.7km, ↗1989m*, ↘843m)

* Auch hier ist eine Abweichung von 150m anzunehmen, analog beim Wert für die andere Richtung.

Der Zug wurde bereitgestellt, ich suchte mir einen schicken Sitzplatz, diesmal auf der anderen Seite als am Morgen, damit man nun die andere Seite der Strecke ausführlich begutachten konnte. Witzigerweise traf ich hier nun wieder auf die Reisegruppe von der Hinfahrt, die aber nicht in diesem Waggon sitzen wollte und sich lieber nach vorn in den klimatisierten Triebwagen verzog. So hatte ich den Waggon fast für mich alleine, lediglich eine andere Frau saß noch mit hier – d.h. während der Fahrt stand sie dann quasi ausschließlich am geöffneten Fenster und ließ die Landschaft auf sich wirken.

Und Landschaft hat es ja dort auch reichlich, wie weiter oben schon beschrieben. Inzwischen war ja die Sonne auch rumgekommen, so dass der Lago di Poschiavo, der morgens noch im Schatten lag, in verschiedensten Blautönen glitzerte. Nördlich von Poschiavo ging es dann die sechs oder sieben Kehren hinauf über Cavaglia bis zur Alp Grüm mit dem Blick auf den Palügletscher. Da muss man dann schon beim Rausgucken öfter mal die Seite wechseln, weil je nach Kehre das Tal mal links und mal rechts ist. Außerdem ist Vorsicht geboten beim offenen Fenster, falls überraschend ein Tunnel um die Ecke kommt gibt das nicht nur kleine Beulen am Kopf.

Vorbei am Lago Bianco und weiterem Gletscher war dann auch schon wieder die Passhöhe erreicht, bevor es auf der anderen Seite weniger steil hinunter geht. Der große Fotopunkt hier ist ja dann die Montebellokurve mit Blick auf den Morteratschgletscher – hatte ich schon 2017 und 2019 gemacht, ist aber immer wieder spektakulär. Und nach rund zwei Stunden Fahrt war der Zug dann schon wieder in St. Moritz. Diese Fahrt ist immer wieder ein Erlebnis.

Abendessen

Vom Bahnhof aus ging es nun über die wieder funktionierende Rolltreppe – auf Treppen hatte ich nach der Wanderung irgendwie wenig Motivation – nach oben in den Ort. Erster Stopp war der örtliche Supermarkt zwecks Getränkeversorgung, danach ins Hotel – so ein Fahrstuhl ist schon eine praktische Erfindung, wenn man keine paarundneunzig Stufen laufen will – und danach zum Abendessen ins gleiche Restaurant wie am Vortag. Warum auch was anderes suchen, wenns gestern gut geschmeckt hatte?

Nach dem Erlebnis vom Vortag – und weil die Kalbsbratwurst irgendwie zu wenig war – fragte ich also nach, ob ich nicht als Vorspeise eine Portion Chicken Nuggets mit Pommes kriegen könnte. Steht zwar auf der Kinderkarte, aber meine Mutter wird eidesstattlich bezeugen können, dass ich ein Kind bin. Und überhaupt gilt ja „Growing old is mandatory, growing old is optional.“ Als Hauptgang gabs Hühnchenbrust mit Pommes und gebratenem Gemüse, nachgespült wurde  – der Wein von gestern löscht ja nicht den Durst von heute – erneut mit diesem regionalen Weißwein, dessen Namen ich mir ja blöderweise nicht notiert habe.

Der Laden war gut besucht, heute konnte man im Gegensatz zum Vortag auch draußen sitzen. Ärgerlich war das laut schreiende Kleinkind am anderen Ende, dass sich partout nicht beruhigen ließ. Muss man denn mit einem Krabbelkind auch unbedingt ins Restaurant gehen? Mein Essen schmeckte mir trotzdem, und danach hieß es nur noch gemütlich und mit kleinen Umwegen zurück ins Hotel schlendern und die Abendsonne überm See genießen.

Fazit: Die Wanderung war eher kurz und zumindest im ersten Abschnitt anspruchslos, danach musste man an den steinigen Ecken schon recht genau gucken wo man hintritt. Dafür gabs italienischen Eisbecher, allerfeinstes Kaiserwetter und Bahnfahren auf einer der schönsten Bahnstrecken der Welt – man kann seine Urlaubstage auch schlechter verbringen. Und weil es so schön war, sollte es am nächsten Tag gleich nochmal in diese Richtung gehen.

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