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Album der Woche

12. Mai 2023, 20:51 Uhr von Uwe

Auf diese Woche hab ich mich schon länger gefreut, denn wir kommen zu einem absoluten Oberhammer von einem Album. Eine Scheibe, die seit der Jahrtausendwende (da lernte ich es kennen) einen festen Platz auf meiner ewigen Top 10 hat. Außerdem hatten wir glaube ich überhaupt noch nix von dieser Band hier in dieser Reihe.

Das Album wurde 1988 veröffentlicht, landete in einer Liste meines relevanten Krawallmagazins unter den Top 10 aller Zeiten und findet sich da in der illustren Gesellschaft von Iron Maiden, Metallica und AC/DC. Tatsächlich kennt aber im Vergleich kein Schwein die Band, und nach diesem Album haben sie zugegebenermaßen auch nicht mehr allzuviel relevantes auf die Kette gekriegt und sind inzwischen mehr oder weniger komplett in der Versenkung verschwunden.

Deswegen an dieser Stelle erstmal dreieinhalb (oder so) Sätze zur Band: Queensrÿche (ja, mit Umlaut überm y, ausgesprochen in etwa Queensreich) aus Seattle waren Anfang/Mitte der 80er eine Band auf dem Sprung. Sie verbanden komplexe Songstrukturen und Instrumentalabfahrten mit eingängigen Melodien und hatten mit Geoff Tate einen der besten Sänger der Welt, in einer Liga mit Rob Halford oder Bruce Dickinson. Ihre Musik war aber eben immer etwas anspruchsvoller als der von anderen Bands – irgendwo hab ich dafür mal die schöne Bezeichnung „Thinking Man’s Metal“ gelesen. Einfach headbangen war hier nie wirklich gefragt. Trotzdem gelten ihre ersten beiden Alben „Warning“ und „Rage For Order“ als Klassiker im Prog-Metal. Ihr drittes Album aber, das Album der Woche, steht nochmal kilometerweit über allem anderen, was die Band je veröffentlicht hat.

Operation: Mindcrime“ ist ein Konzeptalbum. Es erzählt eine finstere Geschichte über Gewalt, Liebe, Tod und Politik. Und diese Geschichte ist nicht nur zeitlos, sondern heute sogar relevanter als damasl. Kurz zusammengefasst geht es um einen jungen drogenabhängigen Typen der auf radikale Weise die Welt verändern will, von einer mysteriösen Geheimorganisation rekrutiert wird und Anschläge auf Politiker verübt, bevor er am Ende alles verliert. Parallelen zu Verschwörungstheoretikern sind zufällig, aber unübersehbar. Wer richtig tief in die Story eintauchen will, möge diese tiefschürfende Analyse lesen.

Das spezielle an diesem Konzeptalbum ist, dass die Songs durch kurze hörspielartige Sequenzen miteinander verbunden sind, die sich (im Gegensatz zu Blind Guardian’s „Nightfall In Middle-Earth“) harmonisch ins Gesamtbild einfügen und die Stimmung entscheidend prägen. Das umfasst Lautsprecherdurchsagen im Krankenhaus sowie Regengeräusche, Kirchenglocken, Dialogfetzen und allerlei andere Dinge.

Die Geschichte ist verschachtelt aufgebaut und wird als Rückblick aus der Sicht des Hauptprotagonisten Nikki erzählt. Der liegt im Opener I Remember Now im Krankenhaus und versucht sich zu erinnern wie er da hingekommen ist: „I remember now, I remember how it started. I can’t remember yesterday,  I just remember doing what they told me…“ Das ganze Stück ist dabei mehr Hörspiel als Song, man hört die Lautsprecherdurchsagen des Krankenhauses („Dr. David, telephone please“) sowie eine im Hintergrund im TV laufende Nachrichtensendung sowie die Stimme der Nachtschwester.

Und dann setzt die Band nahtlos mit einem sich stetig steigernden Instrumental ein, während Nikki anfängt die Geschichte zu rekapitulieren. Dieser Titel Nummer zwo, Anarchy-X, ist dabei von Samples aus einer Demo unterlegt, bei der ein mysteriöser Fremder (Doctor X) die Menge anstachelt („Do we have freedom? No! Do we have equality? No!“). Das geht nahtlos über in das dritte Stück, den man nun tatsächlich als eigenständigen Song definieren kann.

Revolution Calling ist ein Weckruf mit einem krass zeitlosen Text („I used to trust the media to tell me the truth“, „I’m tired of all this bullshit they keep selling me on TV“, „But now the holy dollar rules everybody’s live, gotta make a million, doesn’t matter who dies“). Nikki lernt Doctor X kennen, der sich diese Unzufriedenheit zunutze macht und radikale Pläne verfolgt. Damit sind wir beim Titelstück angekommen.

Operation: Mindcrime beginnt mit einem Telefonklingeln (ganz altmodisches Festnetztelefon damals noch). Nikki, durch seine Drogenabhängigkeit leicht zu manipulieren, wird darauf konditioniert, beim Hören eines bestimmtes Stichwortes („Mindcrime“) zur Waffe zu greifen – „Operation: Mindcrime, we’re an underground revolution working overtime“ – „you’re a one man death machine, make this city bleed“. Nikki wird so zu einem Attentäter und verübt über einen längeren Zeitraum hinweg Anschläge.

Damit kommen wir zum nächsten Song: Speak ist reinrassiger Metal und beleuchtet inhaltlich, wie Nikki sich als Revolutionär fühlt, der die neue Weltordnung herbeiführen wird: „I’m the new messiah, death angel with a gun“. Nachdem dieser Hintergrund der Hauptfigur etabliert ist, kommt nun wie in jedem guten Drama der große Wendepunkt. Dazu wird als nächstes eine neue Figur eingeführt: Sister Mary.

Spreading The Disease heißt der zugehörige Song, er erzählt die Geschichte von Mary, einer jungen Ausreißerin, die sich als Prostituierte durchschlägt („twenty-five bucks a fuck and John’s a happy man, she wipes away the filth and is back on the streets again“). Sie wird von einem Priester aufgelesen, der sie zu Sister Mary macht – aber dabei keineswegs ihr Wohlergehen im Sinn hat („She’s sister Mary now, eyes as cold as ice, he takes her once a week on the altar as a sacrifice“). Das ist harter Tobak, aber wenn man die Nachrichten verfolgt hat die Kirche ja insgesamt viel Dreck am Stecken. Danach folgt ein gesprochener anklagender Text über die Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit von Politikern und religiösen Führern, bevor ein letzter Refrain das Stück beschließt.

The Mission ist nun eine, nunja, Ballade. Nicht wirklich, es ist aber ein deutlich ruhigerer Song, passend zum Inhalt – Nikki versinkt ob seiner Lage in Depressionen. Es ist ihm nicht klar wofür er getan hat, was er getan hat – denn für ihn hat sich nichts geändert, außer dass er jetzt auch noch von der Polizei verfolgt wird. Nur Mary ist ein Lichtblick in seinem Leben („She is the lady that can ease my sorrow, she brings the only friend that helps me find my way“).

Der nächste Song ist das zentrale Stück des Albums (und passenderweise das längste). Suite Sister Mary ist wie der Name suggeriert eine Suite, eine Ansammlung von musikalischen Fetzen, die aber wunderbar als Song funktionieren. Das beginnt mit einem atmosphärischen Regenprasseln, dann öffnet sich mit dem Surren eines elektrischen Fensterhebers eine Autoscheibe und man hört den neuen Auftrag von Doctor X für Nikki: „Kill her. That’s all you have to do.“ „Kill Mary?“ „She’s a risk. And get the priest as well.“ Nikki besucht also Mary und den Priester, erschießt letzteren, bringt es aber nicht übers Herz sie zu erschießen, stattdessen tun sie das was verliebte Menschen halt so tun (textlich schick angedeutet durch die Zeilen „My faith is growing, growing tight against the seam“ und  „burn my thighs, spread in sacrificial rite, the hallowed altar burns my flesh once more tonight“). Musikalisch ist das eine totale Achterbahnfahrt mit fantastischen Gastvocals von Pamela Moore, die die Rolle auch live verkörperte.

Nach diesem zentralen Umbruch der Story folgt nun der unweigerliche und unaufhaltsame Absturz (was man ja irgendwann mal im Deutschunterricht gelernt hat). Nikki hat genug von Doctor X, kann aber nicht aussteigen, denn Doctor X ist derjenige, der ihn mit Drogen versorgt. The Needle Lies ist das härteste und schnellste Stück auf der Platte und hat einen der besten Anti-Drogen-Texte überhaupt, der (ohne das Songintro) auch super als eigenständiger Song funktioniert („now every time I’m weak, words scream from my arm“).

Nikki kehrt zurück zu Mary’s Wohnung und findet sie dort – tot. Das Instrumental Electric Requiem enthält nur einige gesprochene Zeilen („even in death you still look sad“). Wer sie getötet hat, ob sie sich selbst getötet hat, das wurde – Geniestreich – von der Band bewusst offen gelassen und erst viele Jahre später geklärt. Spielt aber auch keine Rolle, in diesem Moment der Geschichte nimmt der Absturz der Hauptfigur dramatisch an Tempo auf.

Breaking The Silence beleuchtet Nikkis schlechten psychischen Zustand. Überall sieht er Erinnerungen an Mary, er kommt mit dem Verlust nicht klar („Now I lost everything I had in you, nothing we shared means a thing without you close to me, I can’t live without you“). Der Song funktioniert dabei natürlich auch ohne das Gerüst des Albums, denn solche Verluste hat ja jeder schon mal in der einen oder anderen Form erlebt.

Es folgt ein Stück, was ohne Albumkontext eine gänzlich andere Bedeutung hat. I Don’t Believe In Love ist ja eben kein Kommentar dass Liebe grundsätzlich nicht existiert, sondern es bringt die Geschichte quasi zum Abschluss: Nikki wird für den Mord an Mary verhaftet (den er – das ist unklar geblieben – vielleicht nicht begangen hat). Er ist aber in Gedanken versunken, was seine Liebe zu Mary nun eigentlich war: „I guess she had a way of making every night seem bright as day, now I walk in shadows, never see the light, she must have lied ‚cause she never said goodbye.“

Es folgen zwei kurze Stücke, Waiting For 22 und My Empty Room. Ersteres ist instrumental, zweiteres zeigt Nikki als dem Wahnsinn verfallen in seiner Zelle. Und nun kommt der große Sprung zurück an den Anfang – die letzten Klänge von My Empty Room führen zu den ersten Klängen des Albums. Wir sind beim letzten Stück angekommen.

Eyes Of A Stranger beginnt mit exakt den gleichen Geräuschen und den Lautsprecherdurchsagen wie der Albumanfang. Der Song erzählt nun, dass Nikki in seinem Wahnsinn nicht mehr er selbst ist und sich selbst nicht mehr im Spiegel erkennt: „And I raise my head and stare into the eyes of a stranger. I’ve always known that the mirror never lies.“ Das Stück nimmt am Ende hin Fahrt auf, Fetzen aus den vorherigen Songs werden untergewoben, die Musik wird wie ein schlechtes Kassettentape immer schneller, bis zum Kollaps und Stille.

Und nun beginnt der Alptraum von ganz vorne: „I remember now.“

Das Album enthält noch weitere Querverweise und Hintergründe. Interessant sind sicher auch die Musikvideos zu I Don’t Believe In Love und Eyes Of A Stranger (leider gekürzt um das relevante Ende) und Operation: Mindcrime. Da werden Teile der Story auch visuell dargestellt. Unverzichtbar fürs tiefere Verständnis ist das reichlich halbstündige Video Mindcrime. Und dann gibts natürlich noch Operation: Livecrime, aufgenommen als die Band das Album live komplett aufführte.

Fazit: Das Album war die absolute Sternstunde der Band, ist aktueller denn je und musikalisch sowieso über jeden Zweifel erhaben.

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