Letzte Woche gabs wilde und abgefahrene Klänge. Und am Ende des Eintrags erwähnte ich dann einige andere Bands, die davon massiv beeinflusst wurden und in der Folge eigene abgefahrene Klänge produzierten. Mit genau einer solchen Band beschäftigen wir uns hier heute, und eine nebensächliche Hauptrolle spielen dabei verquer trötende Flötentöne.
Bei dieser Beschreibung sollte klar sein, dass es nicht um den gleichnamigen englischen Agronomen und Vater der Agrarwissenschaften, sondern um die Band um Querflötenderwisch Ian Anderson (nicht zu verwechseln mit Jon Anderson von Yes). Achso, Jethro Tull heißen Agronom und Band. Besagte Band war in diese Reihe schon mehrfach zu Gast, und diese Woche geht es um das 74’er Album „War Child„.
Auf den Vorgängeralben hatte die Band die progressive Komplexität auf die Spitze getrieben, „Thick As A Brick“ und „A Passion Play“ bestanden aus zwei Stücken die jeweils eine komplette LP-Seite einnahmen. Das funktionierte auf „Thick As A Brick“ wahnsinnig gut, während das andere Album massiv polarisierte und wenig erfolgreich war.
Auf „War Child“ haben die Songs eine leichter verdauliche Länge, was aber nicht heißt, dass die Musik einfach konsumierbar wäre. Das Titelstück macht den Auftakt und beginnt mit Soundeffekten eines Luftangriffs, Sirenengeheul und mittendrin (very british) Teetassengeklapper. Das leitet dann in den eigentlichen Song über, der eine wilde Mischung aus durchgeknallter Rhythmik und ebenso durchgeknallten Arrangements mit allerlei wilden Instrumenten inklusive Streichern und Bläsern darstellt.
In ähnlicher Form geht es mit Queen And Country weiter. Schräge Rhythmik, schräge Riffs, schräge Texte und schräge Klänge (hier ists wohl ein Akkordeon wenn mich meine Ohren nicht täuschen). Das folgende Ladies beginnt mit akustischer Gitarre, endlich kommt die Querflöte zum Einsatz und nach rund drei Minuten ist der ansonsten recht unauffällige Song auch schon vorbei. Achja, Streicher und Handclaps sind hier als zusätzliche „Instrumentierung“ zu verzeichnen. Im folgenden Back-Door Angels darf sich hingegen eine elektrische Gitarre austoben, die aber auch hier wieder in ein völlig wirres rhythmisches Songkonstrukt eingebunden wird – Strophen und Refrains gibt es bei Jethro Tull einfach mal so gut wie gar nicht. Musiktheoretiker hätten sicher ihre helle Freude daran, ich seh einfach nur, dass man sich die Songs teilweise echt erarbeiten muss. Stück Nummer fünf heiß SeaLion und geht flott mit elektrische Gitarre voran, nur um im – huch – Refrain komisch ausgebremst zu werden. Bis auf diesen Refrain ist es aber so ziemlich der konventionellste Song bis hierhin – soll heißen bis zum Ende der ersten LP-Seite.
Auf der zweiten Seite beginnt man mit zwei Songs, die am ehesten zum Reinhören geeignet sind. Skating Away On The Thin Ice Of The New Day klingt sperrig, ist aber eine ruhig arrangierte Folkrock-Hymne, sparsam instrumentiert und mit starkem Fokus auf Ian Andersons Gesang. In eine ähnliche Kerbe schlägt Bungle In The Jungle. Da rifft man elektrisch und mit Pianounterstützung, garniert mit Streichertupfern und walzt so durch den Dschungel. Der Song ist strukturell eher konventionell aufgebaut, was sicherlich dazu beiträgt, dass man ihm eher folgen kann als so manchen Verrücktheiten auf der ersten LP-Seite.
An dritter Stelle folgt die hauptsächlich akustische Ballade Only Solitaire, die aber schon nach nicht mal 90 Sekunden ausklingt und somit eher als Überleitung für das folgende The Third Hoorah dient. Das klingt für mich nach Marschmusik, erinnert an The Battle Of Epping Forest von Genesis, biegt dann aber doch ganz anders ab, nimmt das Riff und ganze Songteile aus War Child wieder auf und kann quasi als Reprise des Titelstücks durchgehen, minus der bombigen Soundeffekte. Solche Sachen sind dann doch irgendwie wieder progressiv – oder waren es zumindest damals. Den Abschluss des Albums bildet Two Fingers, welches ein Motiv aus SeaLion aufgreift. Man weiß nun nicht, ob ihnen einfach die Ideen ausgingen, oder ob sie damit eine gewisse Geschlossenheit des Songmaterials als konzeptionelle Einheit erreichen wollten. Ist letztendlich auch wurscht, Hauptsache man fühlt sich gut unterhalten.
Fazit: Das Album muss man eigentlich am Stück und mehrfach hören, damit man die Querverweise zwischen den Songs überhaupt mitbekommt. Die große Ausnahme sind die ersten beiden Songs der zweiten LP-Seite, Skating Away On The Thin Ice Of The New Day (wer kommt nur mit so sperrigen Songtiteln an?) und Bungle In The Jungle, was gleichzeitig die Anspieltipps sind. Auf Albumlänge schwächelt es etwas, da bevorzuge ich „Thick As A Brick“, aber das wiederum enthält ja eigentlich nur ein überlanges Stück Musik.
Und nächste Woche gibts dann weniger durchgeknallte und dafür verzerrtere Klänge auf die Ohren.

Kommentare